»Beauty is truth, truth beauty – that is all ye know on earth, and all ye need to know», erklärt der britische Dichter John Keats 1819 in seiner berühmten »Ode auf eine griechische Urne«.
Die Präraffaeliten, jene kleine Gruppe junger englischer Künstler, die sich ab 1848 zusammenfinden, suchen nach Schönheit und Spiritualität. Und finden beides in der Natur und bei den Dichtern – in Dantes »Göttlicher Komödie«, in Shakespeares Dramen und bei romantischen Schriftstellern wie Lord Byron oder John Keats.
John Everett Millais, Ophelia. 1851-52, Tate Britain, London
Das wohl bekannteste Beispiel ist das Gemälde »Ophelia« von Sir John Everett Millais, das auf Shakespeares »Hamlet« beruht und rings um die schöne Ertrinkende alle Blumen zeigt, die Königin Gertrud im Drama aufzählt – Hahnfuß, Nesseln, Maßlieb, Kuckucksblumen. Millais, das »Wunderkind«, das schon als Elfjähriger an der renommierten Royal Academy of Arts in London aufgenommen wird, gehört zu den Gründern der »Pre-Raphaelite Brotherhood« und beschwört die reine Schönheit der Natur.
Wochenlang kniet er am Hogsmill River bei Malden, um eine naturgetreue Darstellung der Gräser und der entgleitenden Blütenblätter zu erreichen. Sein Modell Elizabeth Siddal liegt später tagelang in der Badewanne, um den Schwebezustand der Todgeweihten, ihre halbgeöffneten Augen und ihre seltsam im Wasser ausgebreiteten Hände, so natürlich wie möglich darzustellen. Elizabeth holt sich dabei eine Lungenentzündung und überlebt nur knapp. Das Bild aber wird von Publikum und Kritikern hymnisch gefeiert und sorgt für den internationalen Durchbruch der Präraffaeliten.
Dante Gabriel Rossetti, Pia de‘ Tolomei, 1868–1880 © Spencer Museum of Art, University of Kansas, Lawrence
Die Sehnsucht nach einer einfachen, authentischen und wahrhaftigen Welt entsteht auf dem Hintergrund der fortschreitenden Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, der wachsenden Städte, der Fabriken und der verlorenen Landschaften. Die Präraffaeliten, darunter William Holman Hunt, John Everett Millais und Dante Gabriel Rossetti, wenden sich nicht nur gegen die erstarrte akademische Kunstwelt ihrer Zeit, sondern auch gegen die zunehmende Verelendung, Entwurzelung und Entfremdung des Menschen.
Inmitten einer entzauberten und entseelten Natur entwickelt sich nicht nur in England eine romantische Offensive gegen die empirisch wissenschaftliche Aneignung der Natur. Doch das poetische Naturgefühl ist bereits ein ganz und gar modernes Gefühl. Man sehnt sich zurück nach einer Natur, die es längst nicht mehr gibt.
Natur, Dichtung, Mythen und Religion – das sind die Inspirationsquellen der Präraffaeliten. Kein Zufall also, dass sie sich, wie auch die deutschen Romantiker, einem verklärten Mittelalter zuwenden. Die Malerei vor Raffael ist das Vorbild – die Kunst des Spätmittelalters und der Frührenaissance, die Gemälde der alten italienischen Meister wie Fra Angelico oder Pietro Perugino und ihrer nördlichen Zeitgenossen wie Jan van Eyck und Hans Memling, deren Tafeln Rossetti und Holman Hunt auf ihrer »Präraffaelitenwallfahrt« 1849 in Brügge bewundern.
Dante Gabriel Rossetti, Veronica Veronese, 1872 © Delaware Art Museum WilmingtonPietro Perugino, Madonna mit Kind, um 1495 © Galleria Nazionale di Capodimonte
Die Präraffaeliten entdecken auch Sandro Botticelli neu, einen der bedeutendsten Maler der frühen Renaissance. Zum Beispiel sein idealisiertes Bildnis einer jungen Frau von 1480. Es zeigt Simonetta Vespucci, die »Königin der Schönheit« und früh verstorbene Geliebte von Giuliano de Medici, in der mythologischen Verkleidung einer Nymphe. Simonetta ist auch das Modell für die Bilder der Göttin Venus und der Madonna. Es geht nicht um Realität, sondern um ein Ideal.
Ein ähnliches idealisiertes Bild entwirft Rossetti vierhundert Jahre später mit seiner »Monna Vanna«, die ursprünglich »Venus Veneta« heißt. Es geht nicht nur um die Schönheit der portraitierten Alexa Wilding, sondern um einen zeitlosen Traum – um das archetypisch Schöne schlechthin.
Sandro Botticelli, Weibliches Idealbildnis / Portrait der Simonetta Vespucci als Nymphe, um 1480 © Städelsches Kunstinstitut Frankfurt am Main
Dante Gabriel Rossetti, Monna Vanna, 1866 © Tate Britain London
Die Präraffaeliten sind lange vergessen, in Deutschland auch durchaus verpönt – zu viel Ästhetik, zu viel mythologische und jüdisch christliche Symbolik, zu viel Seele und Empfindung, zu viel romantische Weltflucht. Dem linken Zeitgeist ist das alles suspekt. In England und in den Vereinigten Staaten aber werden sie derzeit wiederentdeckt und geradezu stürmisch gefeiert.
Wahrheit und Schönheit. Das »Legion of Honor museum« in San Francisco zeigt mit »Truth & Beauty« aktuell eine große und großartige Ausstellung, die Bilder der Präraffaeliten mit der frühen italienischen, niederländischen und deutschen Kunst verbindet, von der sie inspiriert ist.
Ausstellung in der Legion of Honor © ac
Die »Legion of Honor«, ein neoklassizistischer Palast nach dem Vorbild des »Palais de la Légion d’Honneur« in Paris, liegt oben auf einem waldigen Hügel über den Klippen am »Lands End« der Stadt. Von hier hat man einen wunderbaren Blick auf die Golden Gate Bridge und die Bay, vorausgesetzt, der Nebel, der vom Pazifik kommt und sich nur schwer auflöst, versperrt nicht jede Sicht.
Der Nebel aber passt gut zu den Präraffaeliten, zu den alten Meistern sowieso. Er lässt die intensiven Farben der Bilder noch stärker leuchten, die in den juwelenfarbenen Galerien der Legion zu eindrucksvollen Gruppen komponiert sind. Rossettis berühmte »Lady Lilith« hängt neben der allegorischen »Flora« von Tizian aus dem frühen 16. Jahrhundert, seine mythologische »Proserpina« mit Granatapfel von 1878 neben »Althaea«, einer ebenfalls mythologischen Gestalt von Filippino Lippo aus dem 15. Jahrhundert.
Die ätherischen Figuren der Präraffaeliten ähneln den engelhaften Wesen der alten florentinischen und venezianischen Malerei. Und die zarte viktorianische Gestalt, die am Ende des 19. Jahrhunderts das »Rad des Schicksals« dreht, gleicht der antiken Seherin, die Michelangelo im Jahre 1509 an die Decke der Sixtinischen Kapelle setzt.
Edward Burne-Jones, The Wheel of Fortune, 1883 © National Gallery of Victoria, Melbourne, Felton Bequest
Michelangelo, Delphische Sibylle, 1509 © Vatikan, Sixtinische Kapelle, Rom
»Truth and Beauty«. Das Motiv überspannt die Jahrhunderte. Die Präraffaeliten sind eine der ersten Gruppen, die sich in eine religiöse Vergangenheit träumen, um einer profanen und geistlosen, rationalisierten und banalisierten Gegenwart künstlerisch zu trotzen. Sie werden nicht die letzte sein.
TRUTH & BEAUTY. THE PRE-RAPHAELITES AND THE OLD MASTERS
June 30, 2018 – September 30, 2018
Legion of Honor museum
Lincoln Park | 100 34th Avenue
San Francisco, CA 94121
Tuesdays – Sundays, 9:30 am – 5:15 pm
Beitragsbild © Dante Gabriel Rossetti, Lady Lilith (Detail), 1866–1868 / Courtesy of the Delaware Art Museum
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