»Masken! Masken!« ruft der Dichter Rainer Maria Rilke im Februar 1924 in einem Liebesgedicht. »Masken! Daß man Eros blende… «
Eros ist der griechische Gott der Liebe und der Leidenschaft, der junge Gott mit dem strahlenden Gesicht, das man kaum ertragen kann. Mit der Maske kann man sich vielleicht vor ihm schützen – mit der Maske lockt man ihn aber auch an. Die Maske verspricht Erotik.
Die Maske ist ein Mittel der Verführung. Verführung ist die hohe Kunst der Andeutung – Stil gehört dazu und Raffinesse, Esprit und natürlich die Verkleidung, die Maskerade.
Die Verführung lebt vom Geheimnis und von der kunstvollen Verhüllung. Lebt vom Reiz der Maskierung und vor allem von der Lust, die Masken fallen zu sehen.
Die großen orgiastischen Feste der europäischen Geschichte seit der Renaissance sind Maskenbälle. Legendär sind die Maskeraden am Hofe Ludwigs XIV – noch Marie Antoinette ist so begeistert von der erotischen Freiheit hinter der Maske, dass sie ihr zweites Gesicht gar nicht mehr aufgeben mag.
Die Berliner Maskenbälle des frühen 20. Jahrhunderts sind ein beliebtes Sujet von Künstlern wie Ernst Ludwig Kirchner und Max Beckmann. Und der »Black & White« Maskenball, den der Autor Truman Capote 1965 im New Yorker Hotel Plaza für mehr als 500 Gäste und halb Hollywood veranstaltet, gilt bis heute als die »Party des Jahrhunderts«.
Auch die Pariser Vogue feiert ihr 90jähriges Jubiläum 2010 selbstverständlich mit einem großen »Bal Masqué«. Das ist glamourös, extravagant und erotisch. Und die perfekte Bühne für die Mode – seit je die treueste Dienerin der Verführung.
In Italien verschwindet seit dem 18. Jahrhundert eine ganze Stadt hinter der Maske. Auf der Piazza in Venedig sieht man prachtvolle Maskeraden aus der Welt der antiken Mythologie, der Komödien und der Jahrmärkte. Masken von Teufeln und Göttern, Gespenstern und Gauklern, den Figuren der »Commedia dell‘Arte« und natürlich die »maschera nobile«, die venezianische Maske mit weißer Schminke und Federhut.
Venedig gilt als der Traum vom ewigen Vergnügen und von immerwährender Lust. Der Adel der Serenissima verschwendet ein Vermögen für luxuriöse Kulissen, Feuerwerke und Maskenbälle. Die Maske verspricht Freiheit – politische und amouröse.
Erst mit dem Ende der Republik 1797 endet die Maskengesellschaft Venedigs. Was bleibt, sind ein paar Arien und ein lärmender Karneval.
Die Maske ist ein uraltes Symbol. Seit den ersten steinzeitlichen Tiermasken versucht der Mensch, sich mit Hilfe einer Maske die Kraft oder die Eigenschaften eines Tieres oder eines Gottes anzueignen.
Die Maske verwandelt seinen Träger. Über die Maske wird er selbst zum Tier oder zum Gott. Das Eigene und das Fremde verschmelzen zu einem untrennbaren Ganzen. Hinter der Maske verbirgt der Mensch seine Ohnmacht vor einer stärkeren oder höheren Macht und versucht zugleich, diese zu überwinden.
Die Maske ist ein zweites Gesicht. Bei den Griechen heißt sie deshalb »prosopon« und bezeichnet auch das Gesicht: Die Grenze zwischen dem natürlichen und dem künstlichen Gesicht ist fließend, das Gesicht ist die Maske und umgekehrt.
In der römischen Tradition wird die Maske »larva« oder »persona« genannt – »personare« bedeutet durchtönen und meint die Stimme des Schauspielers, die durch die Maske hindurchtönt und sie belebt.
Auch in der modernen Psychologie meint der Begriff »Persona« eine Art Maskierung – meint die Erscheinungsweise einer Person nach außen, meint die Maske, die er der Welt zeigt.
Die Maske hat eine doppelte Funktion. Einerseits soll sie die wahre Natur eines Menschen verstecken und sein wahres Gesicht, das hässlich sein mag oder entstellt. Andererseits soll sie einen bestimmten Eindruck machen, soll die Anderen täuschen, erschrecken oder verwirren.
Die Maske ist ein Symbol für die Diskrepanz zwischen dem, was ein Mensch ist, und dem, was er vorstellt oder gerne vorstellen möchte.
Die Maske übrigens ist unantastbar und erlaubt niemandem, in das Wesen hinter der Maske einzudringen. In vielen alten Kulturen ist das Herunterreißen der Maske bei Androhung der Todesstrafe verboten. Bis heute gilt die Demaskierung eines Menschen als schändlich oder ist doch zumindest peinlich.
Die Maske sichert Abstand und Distanz – unter der Maske kann man sich einem anderen Menschen nähern, ohne ihm doch nahezukommen.
Die Maske ist ein Versteck und zugleich eine Bedrohung. Für den Betrachter ist eine Maske bedrohlich, weil er sich fürchten muss vor dem, was sich dahinter verbergen könnte. Für den Träger der Maske aber ist sie bedrohlich, weil er fürchten muss, sie zu verlieren und sich selbst zu entlarven. Ständig muss er darauf achten, daß sie ihm nicht herunterfällt.
»The Mask is a Cut Between Visible and Invisible« hat Gucci-Designer Alessandro Michele in diesem Winter auf seine Sweatshirts geschrieben. Die Maske ist eine Trennung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren. Vor allem aber eine Trennung zwischen den Dingen, die man sehen soll und denen, die man nicht sehen will oder nicht sehen darf.
Die Masken des Menschen sind zuletzt bloß Kostüme für einen kurzen Auftritt auf der Bühne der Welt. Plötzlich endet das Spiel. »Es hat der Schnee über Nacht meine Totenmaske gemacht«, ruft der Dichter Yvan Goll 1951 in seinem Gedicht »Schnee-Masken«. »Und meinen Schatten verwandelt er in ein Fastnachtsgewand.«
Mehr zum Thema Masken steht in meinem Buch über »Die Wurzeln unserer Kultur. Natur, Kunst, Mythologie, Feste und Bräuche im Jahreslauf«. Erschienen 2017 im Europa Verlag.
Beitragsbild © Steven Meisel / Vogue Italia 2005
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