»Es gibt keine Schönheit«. Das erklärt die japanische Modedesignerin Rei Kawakubu ganz unmissverständlich. Schon ihre erste Kollektion, die sie 1981 in Paris präsentiert, ist ein Affront gegen jedes gängige Schönheitsideal.
Die unförmigen und grob zerlöcherten Kleider mit verrutschte Taillen und zipfeligen Säumen schockieren das Publikum und ernten blanken Hohn. Die entgeisterten Modekritiker sprechen von »postatomarem Fetzenlook«, von »Hiroshima-Chic« und »Quasimodo-Style«.
Dennoch zählt die Japanerin in kürzester Zeit zu den einflussreichsten Designern des späten 20. Jahrhunderts. Rei Kawakubu, die Avantgardistin aus Tokio mit den Trends von übermorgen, avanciert zu einer Art Hohepriesterin der modischen Avantgarde. Ihr Label »Comme des Garçons« ist Kult für eine neue Generation von Modemachern – von Antwerpen bis New York.
Ihre »Ästhetik der Armut« trifft den Nerv der Zeit. Die Einflüsse kommen aus dem Punk, der das Hässliche propagiert, das Dreckige und Destruktive. Doch Rei Kawakubo macht aus den verstörenden Provokationen des Punk eine Uniform für die intellektuelle urbane Mode-Elite.
»Comme des Garçons« zeigt einen vollkommen neuen Stil. Unstrukturierte Jacken, halb zerschlissene und asymmetrische Gewänder, die Farbe Schwarz und – absolut perfekte Schneiderkunst.
Mit jeder neuen Kollektion schafft Rei Kawakubo eine neue Definition von Ästhetik – kühn, konsequent, radikal und unbequem.
»Ich höre niemals auf zu hinterfragen, bin niemals mit etablierten Werten zufrieden und suche immer nach neuen Wegen, Schönheit zu definieren«, hat Kawakubo einmal gesagt. Diese Schönheit kennt den Schmerz – und das ewige Ungenügen.
Von den konventionellen Erwartungen an schöne oder verführerische Mode hat sich die Designerin ohnehin niemals leiten lassen. Mode im üblichen Sinne hat sie stets zurückgewiesen. »Style is not an Option«.
Keine romantischen Sehnsüchte, keine falschen Ideale. Bei »Comme des Garçons« ist Kleidung immer ein Experiment. Und der Körper eine Art Baustelle – verbeult, verschoben, verfremdet, verzerrt.
Es geht nicht darum, wie Körper oder Kleidung aussehen. Es geht nicht darum, was andere Menschen denken. Was zählt, ist das eigene Gefühl. Kawakubos erste Boutique in Tokio hat keinen einzigen Spiegel. Spiegel verfälschen bloß.
Für ihre Kollektion »Body meets Dress – Dress meets Body« stopft die Designerin ihre Kleider mit Stoffklumpen an Hüften, Bauch oder Schultern aus. Ein Protest gegen jede idealisierte Form von Weiblichkeit, gegen jede normative weibliche Schönheit.
Auf die Bitte einer Journalistin, diese Kollektion zu erklären, malt Kawakubo einen schwarzen Kreis auf ein weißes Papier und verlässt wortlos den Raum.
Sie spricht ohnehin nur das Nötigste. Rei Kawabubo gilt als die »Sphinx« der Modebranche – spröde, schweigsam, scheu. Sie meidet Interviews, öffentliche Auftritte, PR-Kampagnen.
Ihr avantgardistisches Magazin »Six«, das sie ab 1988 zweimal jährlich herausbringt, macht auch nicht viele Worte. Doch ihre Präsentationen mit Künstlern wie Paolo Roversi, Cindy Sherman oder Claude Cahun sind aufsehenerregend und bei Sammlern bis heute hoch begehrt.
Rei Kawakubo, 1942 in Tokio geboren, studiert Kunst und Philosophie an der privaten Keiō-Elite-Universität und arbeitet in einer Textilfabrik, bevor sie beginnt, ihre eigene Mode zu entwerfen. 1973 gründet sie ihre Firma »Comme des Garçons«, 1976 eröffnet sie ihren ersten Store in Tokio.
Der Architekt Takao Kawasaki gestaltet das Geschäft in strengstem Minimalismus – ein komplett weiß gekachelter Raum. »Ich mache Kleider für starke Frauen«.
Rei Kawakubo ist streng. Auch und vor allem zu sich selbst. Von Anfang an erlegt sie sich ein »kachi-kan« auf – ein Wertesystem, das allen gestalterischen und unternehmerischen Entscheidungen zugrunde liegt.
Dazu gehört auch, mit jeder Kollektion etwas vollkommen Neues zu erschaffen. Etwas vollkommen Anderes, das noch nie entworfen und noch nie gesehen wurde. »Ich strebe immer nach einem neuen Weg. Ich mag nichts wiederholen«.
Das »Costume Institute« des Metropolitan Museum of Art hat der japanischen Designerin 2017 eine große Retrospektive gewidmet. »The Art of the In-Between« ist die zweite monographische Schau des Instituts über einen lebenden Designer seit der Yves Saint Laurent Ausstellung im Jahr 1983.
»Rei Kawakubo ist einer der wichtigsten Designer der letzten 40 Jahre«, hat Kurator Andrew Bolton zur Eröffnung erklärt. »Sie bricht alle Dualismen auf: Absence/Presence, Design/Not Design, Fashion/Anti-Fashion, High/Low, Self/Other, Object/Subject. Damit schafft sie unendliche Möglichkeiten, den weiblichen Körper und die weibliche Identität neu zu denken«.
»Not Making Clothes« lautet das vorerst letzte Statement der 76jährigen Designerin. Es geht nicht mehr um Kleidung, sondern um ein Konzept, das weit über Mode hinausreicht. Um Formen, Silhouetten und Skulpturen. Zu entdecken in dem von ihr gegründeten und in jeder Saison neu gestalteten Pop-up-Kaufhaus »Dover Street Market« – in London, New York, Los Angeles, Tokio und Singapur.
Beitragsbild © Deborah Turbeville, Collage Comme des Garçons, Paris 1980 / MoMA
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