Die Moderne ist vorbei. Die Postmoderne ist eine Ära des Neotribalismus. Wir leben wieder in einer Zeit der Stämme. Das ist eine weit verbreitete These.
New Age, Schamanismus, Tätowierungen, Bohemian-Chic, Clubs, rituelle Tänze, afro-brasilianische Kulte oder das jährliche Burning Man Festival in der Wüste von Nevada. Das sind Ausdrucksformen des sogenannten »Neotribalismus«.
Es gibt ein Unbehagen. Einen Überdruss an den modernen westlichen Gesellschaften, die kalt und materialistisch scheinen, bürokratisch und berechnend, steril und sterbenslangweilig.
Der Neotribalismus ist eine Gegenbewegung. Im Schatten der Zivilisation wächst eine Sehnsucht nach dem Ursprünglichen und Archaischen, nach Abenteuer und Freiheit vom Alltag, nach Ekstase und Entgrenzung. Nach einem anderen Leben.
Der Begriff geht auf den französischen Soziologen Michel Maffesoli zurück, der 1988 in seinem Buch »Le Temps des Tribus« die Postmoderne als Ära des Neotribalismus definiert hat. Der Verfall der Kultur, der Religion und der klassischen Institutionen in den Gesellschaften des Westens, so Maffesoli, verunsichere das Individuum zutiefst.
Auf der Suche nach einer neuen Orientierung, nach emotionaler Verwurzelung und Identität, greife es auf archaische Muster zurück, auf die Gemeinschaft von »Tribes«.
Die Bewegung beginnt in den 60er Jahren. Die ersten, die den Neotribalismus zelebrieren, sind die Hippies. Der »Tribe« ist offen, unpolitisch, zerstreut und nomadisch. Man verbringt den Sommer auf Ibiza oder Mykonos und überwintert in Goa oder Kathmandu.
Man reist nach Marrakesch und Kabul, weil es dort die besten Haschischsorten gibt und das Versprechen von Freiheit – sexuell, gesellschaftlich, modisch.
Die Mode spielt, wie immer, eine entscheidende Rolle. Die Mode signalisiert die Zugehörigkeit zum »Stamm«. Der Hippie-Look ist ein wilder Mix mit Requisiten aus allen vermeintlich noch ursprünglichen Kulturen rund um den Globus.
Man trägt Blumen und indische Paisleymuster, Glasperlen und Lederbänder mit Federn, afrikanische Animalprints und bestickte Lammfellmäntel aus Afghanistan, indianische Muster und Wildledertaschen mit Fransen.
Die Hippies sind Geschichte, doch der folkloristische Stilmix der Kulturen, die Fusion fremder Länder und ferner Zeiten, ist allgegenwärtig. »Ethno« oder »Gypsy« oder »Bohemian» heißt der Trend, der keiner ist und von den Designern immer wieder neu aufgelegt wird.
Was die Mode betrifft, so leben wir heute weitgehend aus Konserven. Es gibt schon seit Jahrzehnten keine neuen »Trends« mehr, sondern nur noch »Revivals«.
Viele modische Inspirationen kommen indes aus Kulturen, in denen nicht Trends zählen, sondern Traditionen. Kulturen, in denen Materialien und Handwerkskünste überliefert und bewahrt werden.
»Was aber sollen wir davon halten«, hat Suzy Menkes, die britische Ikone der Modekritik, schon vor einigen Jahren gefragt, »dass Stoffe, die einst für ein paar Rupien auf einem Markt in Rajasthan erworben wurden, in unseren Tagen als Entwürfe westlicher Designer auftauchen – und zu Beträgen gekauft werden, von denen die Erfinder der Originale mehrere Jahre hätten leben können?«
In Zeiten maschineller Massenproduktion ist die Sehnsucht nach Gegenständen, die irgendwie eine Seele haben, größer denn je. Handarbeit scheint der letzte Luxus unserer Zeit. Die moderne Wegwerfgesellschaft sucht zunehmend nach Dingen, die aussehen, als hätte sie Generationen überdauert.
Natürlich ist der Neotribalismus eine romantische Verklärung. Mit den traditionellen Stammesgesellschaften hat er nichts zu tun. Indigene Stämme sind nicht romantisch, sondern zumeist patriarchalisch, repressiv und rigoros. Man hat keine Wahl. Man wird in den Stamm hineingeboren und kann ihn nicht verlassen. Sonst wird man getötet, verstoßen oder ausgesetzt.
Die »Neostämme« hingegen sind offen, flüchtig und unverbindlich. Es gibt keine Verpflichtungen, keine Zwänge, keine Grenzen. Nur persönliche Affinitäten. Oder gesellschaftliche Utopien. Es geht um Ästhetik, Stil und Image.
Man sucht sich einen »Stamm« aus – einen Club, ein Camp, eine Community, ein Festival. Man kann wählen und wechseln. Man ist eine Zeit lang ein Teil einer Gemeinschaft. Man gehört dazu und ist geborgen.
Der Neotribalismus geht davon aus, dass Gesellschaften im Wesentlichen stammesorientiert sind. Die heutigen westlichen Gesellschaften aber, auf dem Höhepunkt der Individualisierung, haben sich von Stamm und Volk und Familie weitgehend gelöst. Die alten Gruppen haben ihre verbindende Funktion verloren.
Die westliche Welt sieht sich zunehmend konfrontiert mit der Einsamkeit von Menschen, die allein und unverbunden in großstädtischen Appartements hausen.
Die Zugehörigkeit zu einen Neo-Stamm erlöst den Einzelnen aus seiner Einsamkeit. In der Gruppe kann er sich fühlen. Hier gibt es Berührung und Intimität. Hier sind idealerweise alle gleich – alle folgen denselben Konventionen, Konsumgewohnheiten und Kleidungscodes.
Neotribalismus ist ein neues Konzept von Identität. Wer man ist, wird zu einer Frage des Stils. Die postmodernen Stämme sind vor allem kultisch fokussiert. Sie beschreiben ein »Mindset«, eine Lebensweise.
Kreativität statt Arbeit, Gegenwart statt Zukunft, Spiritualität statt Status, Phantasie statt Vernunft, Vielfalt statt Uniformität, Eigenart statt Normalität, Solidarität statt Macht.
»Tribes« sind Inseln der Gemeinschaft für postmoderne Nomaden. Es geht um Sozialität, Vertrautheit und Sicherheit.
Die neuen Stämme zeichnen sich durch fließende Grenzen aus, durch Zerbrechlichkeit und driftende Partizipation. Man bleibt eine Weile – eine Woche, ein paar Jahre vielleicht, einen Sommer lang.
Beitragsbild © Edward S. Curtis / Smithsonian Institution. Mitglieder des Qagyuhl-Stammes tanzen zur Wiederherstellung eines verfinsterten Mondes, um 1910