Die Sehnsucht nach dem Süden erwacht im März, in diesem zweifelhaften Monat, der so viel verspricht und so wenig hält, der die Hoffnung bringt und diese Hoffnung, vor allem in den nordeuropäischen Ländern, fast immer enttäuscht.
Aus einem trüben und tristen Berliner Frühling schreibt Gottfried Benn im März 1952 sein Gedicht »Brief nach Meran«: »Blüht nicht zu früh, ach blüht erst, wenn ich komme, dann sprüht erst euer Meer und euren Schaum, Mandeln, Forsythien, unzerspaltene Sonne – ach blüht erst, wenn ich komme«.
Immer im März wächst die Sehnsucht nach Licht und weicher Wärme, nach dem Duft von Orangen, Thymian und Mimosen, nach Heiterkeit und blauen Horizonten.
Unzählige Generationen verzehren sich nach den langen nordischen Wintern in der Sehnsucht nach dem Süden, nach einer fremden und älteren Welt. Arkadien heißt die Sehnsuchtslandschaft der europäischen Kultur.
»Auch ich in Arkadien«, hat Goethe seine »Italienische Reise« untertitelt. Und Friedrich Schiller träumt 1786 in seinem Gedicht »Resignation«: »Auch ich war in Arkadien geboren, auch mir hat die Natur an meiner Wiege Freude zugeschworen; doch Tränen gab der kurze Lenz mir nur«. Aber das ist lange her.
Et in Arcadia ego! Arkadien ist die Sehnsuchtslandschaft Vergils, die poetische Version eines irdischen Paradieses: eine entrückte und verklärte Landschaft, die der römische Dichter in das realiter eher karge Hochland des Peleponnes versetzt.
Hier, fern aller Geographie, siedelt seine Insel der Glückseligkeit, eine frühlingshaft heitere Welt, in der die Menschen zeitlos jung, anmutig und unverdorben ein glückseliges Leben führen. Arkadien ist ein immerwährender Traum.
»Et in Arcadia ego!« steht auch auf dem Grab des preußischen Königs Friedrich II., der seine Sehnsucht nach dem Süden in Potsdam, in der kargen Mark Brandenburg, zu verwirklichen sucht.
Antike Ruinen und Orangerien, Parkanlagen, Schloss Sanssouci und das italienisch inspirierte »Belvedere« auf dem Pfingstberg sind das Abbild eines arkadischen Traumes.
Eine glanzvolle Landschaft, ein südliches Meer, eine Bucht mit Zypressen und kleinen weiß getünchten Häusern, eine Luft voller Vogellaut und Sonnenglück. Das ist der Traum.
Et in Arcadia ego! Immer im März erliege auch ich der Sehnsucht nach dem Süden und träume von Wärme und Bläue und einem idyllischen Ort, der silbern im Sonnenlicht glänzt. Die Wirklichkeit sieht meist anders aus.
Mal abgesehen von der Tatsache, dass auch die mittelmeerischen Länder im März stürmisch, kalt und verregnet sein können, ist nichts so trostlos wie die billigen Hotelbauten an den Küsten, die um diese Jahreszeit mit abgeblättertem Putz und geschlossenen Fensterläden zwischen verlassenen Pizzerien und Geschäften gähnen.
Ja, es gibt blühende Wiesen, frische Artischocken und an den knorrigen Ästen der Freigenbäume ein zartes Grün. Doch daneben verrostete Eisengitter und kaputte Glühbirnen, ein zerrissenes Plastiknetz und eine staubige Palme. Und überall Müll – im Meer, an den Stränden, den Straßenrändern, den Eingängen verlassener Häuser. Arkadien ist anderswo.
Das ist malerisch? Von morbidem Charme? Oder pittoresk, wie mein Reiseführer fand? Oder ein seltsam schwärmerischer und weltentrückter Blick, den man nur einnehmen kann, wenn man ein Rückflugticket in der Tasche hat? Der Süden ist bekanntlich fast überall eher arm, nicht nur auf Sizilien, das aus einer romantischen Vorstellung heraus in diesem März mein »Sehnsuchtsort« war.
Das Leben im Süden ist ziemlich hart. Gegen den strahlenden Sonnenschein und das blaue Meer stehen hohe Jugendarbeitslosigkeit, Landflucht oder Flucht überhaupt. Der Süden ist vor allem ein Traum des Nordens. Das war schon immer so.
Ja, es gibt im Süden noch idyllische Orte. Versteckte Dörfer fern der Küsten, luxuriöse Resorts und private Landhäuser, Pinienwälder und Weinberge und die Terrasse eines alten Grand Hotels, auf der schon der englische Schriftsteller D.H. Lawrence und der letzte deutsche Kaiser vom seligen Leben im Süden träumten und ihren Blick versonnen über gepflegte Gärten mit plätschernden Brunnen und Zitronenbäumen zum Meer und zum rauchenden Ätna schweifen ließen. Auch das ist lange her.
Im Zeitalter des Massentourismus ist der Süden schon längst keine poetische Postkartenidylle und erst recht kein Ort der Glückseligkeit mehr. Wir wissen das.
Und dennoch. Auch im nächsten Jahr, nach einem langen nordischen Winter, wird im März die Sehnsucht nach dem Süden wieder erwachen. Aller Wirklichkeit zum Trotz.
Irgendwo muss es Arkadien doch geben. Wenn auch nur als Traum, als Ideal oder als unsterbliche Utopie.
Beitragsbild © ac
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