Der Oktober kündet vom Herbst des Jahres und vom Herbst unseres Lebens. Die fahlen Gärten, die zerstreute Landschaft und die Einsamkeit in den kahlen Wipfeln – die Bilder des Oktobers sind die Bilder des Alters.
Noch gibt es goldglänzende Tage, doch in die leuchtenden Himmel ragen schon kahle Zweige. Die frühen Abende sind dunkel und feucht. Der Oktober macht die Landschaft durchsichtig – die welkenden Blätter scheinen einzeln aufgehängt. Ein leichter Wind weht sie hinweg.
Das Fallen der Blätter ist wie das Fallen unserer eigenen Körper. Der Dichter Friedrich Hölderlin fragt: »Ist der Mensch nicht veraltert, verwelkt, ist er nicht wie ein abgefallen Blatt, das seinen Stamm nicht wieder findet und nun umher gescheucht wird von den Winden, bis es der Sand begräbt?«
Edward J. Steichen, Wilted Sunflower, um 1922 Vintage ViewsHerbstlicher Baum am Heiliger See, PotsdamAndré Kertész, Vert Galant on a Fall Afternoon, Paris 1963 © The Estate of André Kertész / Higher Pictures / Metropolitan Museum of Art
Wir werden alt und erkennen uns nicht wieder. Eines Tages haben wir uns verändert und finden unser Spiegelbild nicht mehr. Plötzlich entdecken wir eine Falte auf der Stirn, einen Schatten unter den Augen und eine Schärfe um den Mund, die gestern noch nicht da waren und nun nicht mehr vergehen.
Plötzlich ist Herbst. Die Dämmerung schleicht heran und bringt Abschied und Verlust. Der Verlust betrifft vor allem die Zeit. Die Jugend hat die Zeit und die Zukunft noch vor sich. Aus ihrer Sicht ist das Leben eine lange Zukunft. Mit dem Alter aber schmilzt die Zeit und wird immer weniger – jetzt wächst nur noch die Erinnerung. Aus der Sicht des Alters ist das Leben eine ziemlich kurze Vergangenheit.
Pablo Picasso, Cannes, 1957 © Irving Penn / The Irving Penn FoundationHerbst am Belvedere auf dem Pfingstberg, Potsdam
Georgia O’Keeffe, 1967 © John Loengard / Time
Im Hinblick auf das Altern hat im 20. Jahrhundert eine radikale Veränderung stattgefunden. In Europa hat sich der Bevölkerungsanteil der über Fünfundsechzigjährigen mehr als verdreifacht. Die zunehmende Überalterung der Gesellschaft hat das Verhältnis zum Alter dramatisch verkehrt.
Wir werden zwar immer älter, aber wir wollen nicht alt sein. Heute ist Jugend gefragt. Die amerikanische Essayistin Susan Sontag notiert schon 1965 in ihrem Tagebuch: »Jede Epoche hat ihre charakteristische Altersgruppe – unsere ist die Jugend. Die Geisteshaltung der Epoche ist cool«.
Jugend und Schönheit aber die sind die Angelegenheit eines Augenblicks. Der physische Zauber schwindet dahin, der Körper altert unwiederbringlich. Der Herbst des Jahres, das Welken und Fallen der müden Blätter, erinnern uns an unsere Vergänglichkeit. Es gibt keine Dauer in dieser Welt. Jegliche Form vergeht.
Charlotte Rampling, London 2016 © Peter Lindbergh / Courtesy Peter Lindbergh, Paris
Herbstlaub im Schlosspark Sanssouci, PotsdamAlte Frau aus dem Stamm der Tschuktschen, Sibirien © Jimmy Nelson / Before They Pass Away / teNeues
Ob der Jugendwahn der westlichen Moderne eine echte Verjüngung ist oder bloß eine massenhafte Verjugendlichung, bleibt eine offene Frage. Werden wir jünger oder nur infantiler? Der alte Mensch jedenfalls, wenn er sich an die Vorstellungen seiner Jugend klammert und als ein Alter unbedingt so sein will wie ein Junger, läuft Gefahr, sich lächerlich zu machen.
Der amerikanische Kulturphilosoph Robert P. Harrison stellt in seinem Buch Ewige Jugend fast bedauernd fest, dass unsere Gesichter heute »unfertig und unreif« bleiben, selbst wenn sie mit dem Alter dahinwelken. Wie alt wir auch werden, nie erlangen wir »die markanten Züge des Alters«.
Natürlich gibt es noch wunderschöne alte Gesichter – ganz ohne jede Retusche. Aber sie scheinen selten geworden. Vielleicht waren sie schon immer eher selten, weil die Schönheit des Alters so etwas wie Persönlichkeit, Tiefe, Kultur, Vervollkommnung und Vergeistigung braucht. Ist das »uncool«?
Franca Sozzani, Vogue Italia © Peter LindberghRichard Long, A Circle in the Andes, 1972 © Courtesy Richard LongCarl Gustav Jung © C.G. Jung Gesellschaft
Der Lauf des Jahres und das Leben des Menschen sind wie ein Kreis. Die erste Hälfte ist ein stetiger Aufstieg, ein Wachstum und Blühen. Die zweite Hälfte hingegen ist ein unaufhörlicher Abstieg, eine zunehmende Einschränkung und Verminderung.
Die erste Hälfte des Lebens, hat der Schweizer Psychologe Carl Gustav Jung in seiner Theorie zur Individuation des Menschen erklärt, ist expansiv und gehört der Ich-Entwicklung und Existenzsicherung, dem Gelderwerb und Erfolg, der Familie und Gesellschaft.
Die zweite Hälfte des Lebens hingegen dient der Kultur und gehört der inneren Entwicklung und Erkenntnis, der Betrachtung und Rechenschaft. Diese Hälfte ist kontemplativ und zielt auf die Entdeckung der inneren Welten. Die Jagd nach den äußeren Reichtümern der Welt ist vorbei – oder sollte es zumindest sein. Jetzt beginnt die Suche nach jenen Schätzen, die nicht von Rost und Motten gefressen werden.
Igor Stravinsky 1946 © Arnold Newman / Metropolitan Museum of ArtEdward J. Steichen, Sunflower 1920 Vintage ViewsLouise Bourgeois 1997 © Annie Leibovitz
Das Alter verlangt vom Menschen eine entschiedene Umkehrung aller Werte und Ideale der Jugend. C.G. Jung schreibt 1931: »Wir können den Nachmittag des Lebens nicht nach demselben Programm leben wie den Morgen, denn was am Morgen viel ist, wird am Abend wenig sein, und was am Morgen wahr ist, wird am Abend unwahr sein.«
Die Umkehrung aller Werte meint den Abschied von bloßen Äußerlichkeiten hin zu einer Entdeckung der inneren Reichtümer. Im Alter kann sich der Mensch auf die Suche nach dem Sinn seines Daseins begeben. Er kann Gelassenheit üben, Weltbetrachtung und Weisheit, er kann das Ewige im Menschen erkennen – und in sich selbst.
Selbsterkenntnis allerdings gehört zu den schwierigsten Aufgaben eines Lebens. Doch am Ende zählt nichts anderes. Mit den Worten C.G. Jungs: »The privilege of a lifetime is to become who you truly are«.
Mehr zum Monat Oktober, zum Herbst und zum Alter, steht in meinem Buch über »Die Wurzeln unserer Kultur. Natur, Kunst, Mythologie, Feste und Bräuche im Jahreslauf«. Erschienen 2017 im Europa Verlag.
Beitragsbild Georgia O’Keeffe, Pattern of Leaves, 1923 © Phillips Collection Art Gallery Washington DC