Grau ist die Farbe der großen Metropolen – London, Paris, Berlin, New York. Grau ist die Farbe früher Abendstunden, wenn der nasse Asphalt im Licht der Bistros glänzt und die Leuchtreklamen der Theater und Kinos aufflackern – steingrau, staubgrau, anthrazit.
Grau ist die Farbe letzter Herbsttage, wenn die Hitze und der Staub und die Touristen verschwunden sind und die Straßen wieder den Spaziergängern gehören, den Träumern und den Verliebten.
Grau ist wie ein Film aus der »Nouvelle Vague« oder wie Jeanne Moreau im »Fahrstuhl zum Schafott«. Überhaupt die Moreau, die immer erst im Morgengrauen nach Hause kommt, allein, mit nackten Schultern, schweren Lidern und den Schatten der Begierde auf der Haut. Irrfahrten durch die nächtliche Großstadt, die immer in irgendeinem Grauen enden. Doch abends, in der Dämmerung, schimmern wieder gefüllte Gläser auf einer Theke im ersten Lampenlicht.
Grau ist wie klassischer Jazz oder wie ein Song von Miles Davis – »Round Midnight«. Grau ist kühl und intellektuell wie ein Stück von Jean-Paul Sartre oder wie ein Konzert von Glenn Gould. Der Truck-Stop am Highway 400 bei Toronto ist das Lieblingslokal des Pianisten und sein Wohnsitz ist ein winziges Hotelzimmer in der Vorstadt – stahlgrau, betongrau, graphit.
Grau ist glanzvoll wie Spinnfäden im Sonnenlicht oder wie ein See im morgendlichen Nebel. Grau ist melancholisch wie der verwelkte Park im November – aschgrau, rauchgrau, regenwolkengrau.
Grau ist verwunschen wie ein Rhododendrongarten in Saint-Germain-des-Prés, mondän wie ein altes Teeservice aus englischem Silber und morbide wie eine verblasste Seidentapete in einem morschen Gemäuer – schilfgrau, perlgrau, eisengrau.
Grau ist subtil. Der französische Couturier Christian Dior hat das schon früh erkannt. Inspiriert von den grauen Felsenküsten der Normandie und den zurückhaltenden grauweißen Louis-XV Möbeln seines Elternhauses, wird Grau zu seiner Lieblingsfarbe. Er ist fasziniert von den weiß verputzten Wänden, die mit den Jahren eine zarte gräuliche Tönung annehmen und im Morgenlicht rosa schimmern.
Für Dior ist Grau »die eleganteste Farbe« überhaupt. Seinen ersten Salon in der Pariser Avenue Montaigne, den er 1946 eröffnet, gestaltet er ganz in Grau. Das Interieur weist mehr als fünfzig verschiedene Grauschattierungen auf – weißgraue Wände, grau gebeizte Hölzer, ein grau verputzter Kamin, grauer Samt auf den Louis XVI. Medaillonstühlen, graues Leder auf den Récamièren, graue Teppiche auf den Böden, ein dunkelgrauer Tisch aus poliertem Metall.
Grau ist auch die vorherrschende Farbe in fast all seinen Kollektionen. Dior macht aus dem Wehrmachtsgrau des Zweiten Weltkrieges eine luxuriöse Farbe. Seine Kreationen bringen ein wenig Schönheit zurück in die zerstörten Städte jener Zeit und seine Kundinnen lieben ihn dafür.
Bei Dior hat die Farbe sogar einen Duft. Das Parfum »Gris Montaigne« riecht nach Eichenmoos, Amber, Zedernholz und Rosen.
Grau hat unzählige Nuancen – silbergrau, taubengrau, schiefer. Steingrau, mausgrau, taupe. Grau ist reine Poesie.
Grau kann schimmernd sein wie ein Abendkleid aus silbergrauem Satin. Grau kann streng sein wie eine Skulptur von Henry Moore. Grau kann urban sein wie ein Mantel aus grauer Wolle oder ländlich wie ein Kostüm aus dunkelgrauem Tweed. Grau passt zu allem.
Grau kann schlicht und glamourös sein, praktisch und erlesen, lässig und aristokratisch, diskret und kostbar. Gibt es eine einfachere Farbe? Eine, die immer wieder anders aussieht?
Grau kann schlicht und glamourös sein, praktisch und erlesen, lässig und aristokratisch, diskret und kostbar. Gibt es eine einfachere Farbe? Eine, die immer wieder anders aussieht?
»Grau ist die Farbe der Wahrheit«, hat der französische Schriftsteller André Gide einmal gesagt. Grau ist meine Lieblingsfarbe.
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