Der Mai ist der alte Marienmonat. Die Andachten der Katholischen Kirche sind der Madonna gewidmet – ihr gehören die Lilie und das Maiglöckchen. In früheren Zeiten werden die Marienaltäre Italiens und Spaniens mit Lilien geschmückt, im Norden aber mit Maiglöckchen.
Kaum ein Bildnis hat die europäische Kultur stärker geprägt als die Gestalt Mariens. Die Madonna ist über Jahrhunderte die stärkste Ikone der christlichen Kunst – seit dem frühen Mittelalter entstehen unzählige Gemälde und Skulpturen für Kirchen, Pilgerstätten und Prozessionen.
In der Volksfrömmigkeit spielt die Marienverehrung von Anfang an eine zentrale Rolle. Maria, die Mutter mit der Himmelskrone und dem wunderbringenden Kind auf ihrem Arm, ist überall und zu allen Zeiten ein Symbol der Hoffnung – auf Erlösung oder schlicht auf eine bessere Zukunft. Marienbilder hängen nicht nur in Kirchen und Klöstern, sondern auch an den Wänden von Strohhütten und dürftig verputzten bäuerlichen Katen.
Maria ist die Schutzheilige der Gestrauchelten, der Dirnen und aller Frauen, die nicht wissen, wie sie ihre Kinder durchbringen sollen. Sie ist die Schmerzensreiche, die »Mater Dolorosa« mit den sieben Schwertern im Herzen, die zusehen muss, wie ihr Sohn getötet wird. In ihrem Bild erkennen sich über die Zeiten ungezählte Mütter in der verzweifelten Trauer um ihre gequälten oder ermordeten Kinder.
Millionen Menschen pilgern bis heute zu den Marienbildern der großen europäischen Wallfahrtsorte in Lourdes, Altötting, Fátima oder Częstochowa. Maria ist die Gütige, die Barmherzige und Trostreiche, zu der die Menschen in allen Ländern ihre Nöte tragen – Arme und Alte zumeist, Kranke und Behinderte, die in der Anbetung der Madonna eine Linderung ihrer Leiden suchen und die Hoffnung auf ein wenig Glück.
Das Ave Maria, abgeleitet aus dem Gruß des Erzengels Gabriel an Marien bei der Verkündigung, gehört zu den meistgesprochenen Gebeten der Christenheit.
Überhaupt wäre die Christianisierung Europas ohne Maria wohl nicht so rasch vorangeschritten. Die neue christliche Lehre wird vielerorts von den Frauen verbreitet, denen plötzlich eine in der Alten Welt unübliche Menschenwürde und Gleichheit vor Gott zugebilligt wird.
Vor allem Frauen aus den unteren gesellschaftlichen Schichten, zwangsverheiratete Ehefrauen, rechtlose Sklavinnen und Witwen, die auf den Straßen ihr kümmerliches Leben fristen, lassen sich oder ihre Kinder taufen – so wie die römische Gastwirtstochter Helena, die von Kaiser Flavius Valerius Constantius geschwängert und verlassen wird und ihren Sohn Konstantin zur neuen Religion bekehrt.
Konstantin, nach dem Tod seines Vaters zum Kaiser des Römischen Reiches ernannt, erklärt das Christentum im 4. Jahrhundert zur Staatsreligion und den christlichen Gottesdienst zum öffentlichen Kult für Kaiser und Reich.
Maria ist die ewige Jungfrau. Jenseits der Tatsache, dass das katholische Dogma die Jungfräulichkeit Mariens bis heute biologisch deutet, ist das Reine und Unschuldige in fast allen alten Kulturen eine Voraussetzung für jedwede Begegnung mit dem Göttlichen – auch die Priesterinnen der heidnischen Tempel, die Seherinnen und Sibyllen, haben jungfräulich zu sein.
Das Motiv der wunderbaren Geburt aus der Jungfrau ist in der Alten Welt ebenfalls weithin verbreitet. Immer wieder werden Gottessöhne oder Heilsbringer von jungfräulichen Müttern geboren.
In der ägyptischen Mythologie etwa wird die Göttin Isis durch den Verzehr von Trauben schwanger und gebiert Horus, das göttliche Kind. Die Göttin, die ihren Sohn im Arme hält, gehört bis ins 4. Jahrhundert zu den beliebtesten Gottheiten im Römischen Reich und ist selbst in Gallien, Germanien, England und Ungarn bekannt.
Maria ist die christliche Ikone des Mütterlichen. Die Mutter ist das erste und ursprünglichste Bild. Die Mutter ist das, was in allen Fällen schon da ist.
Das Bild einer göttlichen Mutter mit Kind gehört zu den universalen Bildern der Menschheit. Sie hat über die Zeiten viele Namen, doch ihre Gestalt ist immer dieselbe.
In den sumerischen Stadtstaaten des dritten vorchristlichen Jahrtausends wird eine Göttin verehrt, die einfach »amma«, also Mutter heißt. In der griechischen Mythologie heißt sie Gaia und ist eine mütterliche Erde in Göttergestalt. Im kleinasiatischen Ephesos heißt sie Artemis, in Phrygien wird sie Kybele genannt, in der germanischen Mythologie heißt sie Freya.
Mit dem Christentum verschwinden die alten Muttergottheiten. Allein Maria, so will es die christliche Lehre, ist die wahre Mutter. Da jedoch ein großer Teil des einfachen Volkes nicht gewillt ist, seine geliebten Göttinnen preiszugeben, werden viele Bilder umgedeutet und zu Bildern der Gottesmutter erklärt.
Die christliche Marienverehrung ist durchaus ein Ersatz für die verbotenen Kulte. Zahlreiche Symbole der alten weiblichen Gottheiten – der Sternenmantel der Aphrodite, die weiße Taube der Ischtar oder die Mondsichel der Artemis – gehen über auf das Bild Mariens.
Übrigens ist Maria auch das Urbild und Vorbild der Dame. Maria ist die Herrin und das französische Wort dame, aus dem lateinischen domina, wird seit dem 16. Jahrhundert zu einer Bezeichnung für Frauen aus dem Adel, später auch für Frauen aus dem Bürgertum.
Mehr zum Monat Mai, zu Madonnen und anderen Symbolen des Weiblichen, steht in meinem Buch über »Die Wurzeln unserer Kultur. Natur, Kunst, Mythologie, Feste und Bräuche im Jahreslauf«. Erschienen 2017 im Europa Verlag.
Beitragsbild Leonardo da Vinci, Kopf der Jungfrau Maria, 1510-1513 © The Metropolitan Museum of Art
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