Die Nacht ist anders als der Tag. Sie ist Zauber, Traum und Poesie. Aber sie ist auch Schrecken, Angst und Spuk. Die Nacht ist das Früheste. Aus ihrem Chaos entsteht die Welt.
Die Nacht bringt den Schlaf und den süßen Trank der Lethe. Doch es gibt auch die Ruhelosen, die Nachtschwärmer und Schlafwandler, die Verliebten, die Verzweifelten und die Verbrecher. Sie alle sind nächtlich auf der Suche. Nach Liebe oder Leidenschaft, Rausch oder Reichtum, Trost oder Vergessen – oder nach sich selbst.
In der Nacht finden die heimlichen Spiele statt, die verbotenen Begierden, die trunkenen Torheiten und die schicksalhaften Begegnungen. In der Dunkelheit fallen die Schranken. Die Geschichten der Nacht sind fast immer mörderische, orgiastische oder erotische Geschichten. Und manche bleiben besser verborgen.
Im Glanz der nächtlichen Großstadt schwindet die Nacht. In den Cafés und Clubs stehen gefüllte Gläser auf einer Theke im Lampenlicht. Dort stranden die Einsamen auf ihren ziellosen Irrfahrten, die immer in irgendeinem Grauen enden.
In fast allen alten Kulturen ist die Nacht eine gefährliche Zeit. Im griechischen Mythos gehen aus Nyx, der Göttin der Nacht, die fragwürdigsten Wesen hervor: Moros, das Verhängnis, Ker, das Verderben, Hypnos, der Schlaf und Thanatos, der Tod.
Die Nacht birgt die Mächte der Finsternis – Gespenster, Gestaltwandler und das ganze Gelichter der Unterwelt. Friedrich Nietzsche, noch studentisch übermütig, beschwört zur Geisterstunde die nächtlichen Mächte und gießt roten Wein als Opfergabe in die Straßen der Stadt Basel. »Seid gegrüßt, Dämonen«! Es scheint bloß ein Scherz, doch die Unsichtbaren hören den Ruf und folgen ihm. Man kann ein Leben verspielen in einer einzigen Nacht.
Nur für die Romantiker ist die Nacht voller Zauber. Sie liegt sanft und still über leeren Landschaften und verwunschenen Wäldern im Mondenschein. Die Nacht ist kein Fluch, sondern ein Segen.
Der Tag hat Zahl und Zeit, die Nacht aber ist zeitlos und unberechenbar. Der Tag gehört dem Rationalen und dem Nützlichkeitsdenken, die Nacht aber gehört dem Geheimnis. In der Dunkelheit scheinen alle Dinge miteinander verwoben, verkettet, vernetzt. In der Nacht kehren die Märchen zurück, in der Nacht können Tiere und Puppen sprechen.
Die Nacht löst den Schmerz und den vergeblichen Ehrgeiz. Die Nacht träufelt Balsam aus einem Bündel Mohn und lässt alles Geschwätz verstummen. Der Tag macht müde und krümmt das Kreuz, die Nacht aber hebt die schweren Schwingen des Verstandes.. Vor allem der romantische Dichter Novalis verherrlicht die Nacht und ruft: »Trägt nicht alles, was uns begeistert, die Farbe der Nacht«?
Doch jenseits aller Romantik löst die Nacht nicht nur den Schrecken – sondern bringt ihn erst. Die Häscher kommen immer in der Nacht, kommen in den fröstelnden Stunden vor dem Morgengrauen, wenn die Dunkelheit und der Schlaf am tiefsten sind, und sie kommen, um uns abzuholen, uns fortzuschleppen und zu vernichten.
Wie können wir schlafen?
»Nachts. Zwischen Traum und Wirklichkeit« ist der Titel einer großartigen Ausstellung der Münchner Sammlerin Ingvild Goetz, die aktuell im Haus der Kunst zu sehen ist. Ein Streifzug durch die Nacht in 14 Stationen – vom Sonnenuntergang bis zur Morgendämmerung. In Filmen, Videos, Installationen und Fotografien aus der Sammlung Goetz geht es um Schlaf und Schlaflosigkeiten, um Träume, Sehnsüchte und Obsessionen.
Gleich am Anfang kann man den Hörer eines alten Telefons abnehmen und den Träumen der kanadischen Installationskünstlerin Janet Cardiff lauschen, die mit flüsternder Stimme frühe Kindheitserinnerungen und erotische Erlebnisse erzählt.
Im Traum, so glauben die Schamanen der frühen Kulturen, sprechen die Geister längst verstorbener Ahnen. Im Traum, so glaubt der antike Philosoph Plotin, spricht die unsterbliche Seele aus einer höheren Welt.
Im Traum, so glaubt der Schweizer Psychologe C.G. Jung, spricht das fremde, das unbewusste Ich. »In jedem von uns ist auch ein Anderer, den wir nicht kennen. Er spricht zu uns durch den Traum und teilt uns mit, wie anders er uns sieht, als wir uns sehen«. Träume sind eine Art von Selbsterkenntnis. Sie kennen keine Beschönigung. Träume lügen nicht und lassen sich nicht bestechen.
Eine Station der beeindruckenden Ausstellung zeigt, ganz romantisch, einen orangefarbenen Mond, der über den nächtlichen Himmel zieht. Für den Videofilm »Dark Cloud« hat der deutsche Künstler Christoph Brech seine Videokamera an der Reling eines Frachters befestigt, der von Hamburg nach Toronto fährt.
Besonders berührend sind die Bilder, die der niederländische Fotograf Ed van der Elsken in den 1950er Jahren in Paris aufgenommen hat. Sie zeigen das Leben einer Gruppe meist obdachloser Jugendlicher, für die die nächtlichen Cafés und Straßen von Saint Germaint de Près zu einem Zuhause geworden sind.
Nächte ohne Schlaf sind immer einer Not geschuldet – einer äußeren oder inneren. Einem überhitzten Denken vielleicht oder einem verzweifelten Ringen um Wahrheit und Erkenntnis. Einer Heimatlosigkeit vielleicht, einer Unruhe des Herzens oder einem Leiden an der Welt.
Doch auch die dunkelste Nacht endet mit einem Sonnenaufgang. Das hat etwas Tröstliches.
Beitragsbild Clement Page, Sleepwalker, Installation view, 2005, 2-channel video (color, sound), © the artist / Courtesy Sammlung Goetz, Medienkunst, München / VTO Gallery, London
Mehr zu Nacht, Schlaf und Traum steht in meinem Buch über »Die Wurzeln unserer Kultur. Natur, Kunst, Mythologie, Feste und Bräuche im Jahreslauf«. Erschienen 2017 im Europa Verlag.
NACHTS. ZWISCHEN TRAUM UND WIRKLICHKEIT
12. Juli 2019 — 6. Januar 2020 Sammlung Goetz im Haus der Kunst
Prinzregentenstraße 1 / 80538 München
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