»Nothing is less real than realism«, hat Georgia O’Keeffe einmal erklärt. An den wahren Sinn der Dinge kommt man nur durch Auswahl und Betonung, durch die Eliminierung der Details.
Details sind verwirrend. Der amerikanischen Künstlerin geht um das Wesentliche. Nicht nur in ihrer Kunst. Das Prinzip der Reduktion prägt auch ihren Lebensstil.
Prägt ihre schlichte schwarze und weiße Kleidung, die an Gewänder von Zen-Mönchen erinnert. Prägt ihren abgeschiedenen Alltag in der kargen Landschaft des amerikanischen Südwestens, die minimalistische Gestaltung ihrer »Ghost Ranch«, die Sammlung archaischer Artefakte, Steine und Schädel.
Von Anfang an haben ihre Arbeiten ein hohes Maß an Abstraktion. Damit steht Georgia O’Keeffe früh an der Spitze der modernistischen amerikanischen Kunst.
Der Photograph und Galerist Alfred Stieglitz ist von ihren ersten abstrakten Kohlearbeiten so begeistert, dass er umgehend eine Einzelausstellung für O’Keeffe organisiert und die 28jährige überredet, nach New York zu ziehen und die Malerei zu ihrem Beruf zu machen.
Natürlich spielt Stieglitz in ihrem Leben und ihrer Karriere eine große Rolle. Er macht nicht nur mehr als 300 Fotos von O’Keefe, die er ein fortlaufendes Porträt nennt, er veranstaltet ab 1923 auch jährlich eine Ausstellung ihrer Werke, die von allen namhaften Kunstkritikern besucht wird.
Wenig später ist Georgia O’Keeffe eine der prominentesten lebenden Malerinnen Amerikas. 1927 hat sie ihre erste Retrospektive im Brooklyn Museum und verkauft eines ihrer Gemälde für 25.000 Dollar. Das damals teuerste Kunstwerk, das bei einer Auktion versteigert wird.
1924 heiraten Stieglitz und O’Keeffe. Um diese Zeit beginnt sie mit ihren großformatigen Blumenbildern, die alle gängigen Vorstellungen von einem Stillleben in Frage stellen. Durch die Vergrößerung erreicht sie eine neue Wahrnehmung. Durch die Nähe zum Objekt eine neue Definition von Schönheit.
Die Blumenbilder machen O’Keeffe endgültig berühmt. Die Blumenbilder sind zugleich aber auch der Gegenstand größter Missverständnisse. Einmal sagt sie wütend: »I hate flowers — I paint them because they’re cheaper than models and they don’t move!«
Sehr zum Ärger der Künstlerin beginnen Kritiker und Fans, ihre abstrahierten Blumen, vor allem Gemälde wie »Black Iris«, mit weiblichen Genitalien zu vergleichen. Die Rezeption geht letztlich auf Stieglitz zurück, der ihre Arbeit einmal als »die Kunst, die aus dem Mutterleib kommt«, bezeichnet hat.
O’Keeffe selbst hat jegliche sexuelle Symbolik in ihren Gemälden verneint. »Wenn die Leute erotische Symbole in meine Bilder hineinlesen, sprechen sie in Wirklichkeit über ihre eigenen Angelegenheiten«, hat sie stets gesagt.
Ebenso ärgerlich findet O’Keeffe alle Versuche des Feminismus, sie zu einem Leitbild der Bewegung zu machen. Als sei jedes Blütenblatt, jeder Knochen und jeder leere Türrahmen in ihrem Werk eine inhärent weibliche Angelegenheit.
O’Keeffe will keine »Künstlerin« sein, sondern einfach ein Künstler. »Man tut mich gern ab als beste Künstlerin unter den Frauen. Ich glaube aber, ich bin einer der besten Künstler überhaupt«.
Georgia O’Keeffe braucht den Feminimus nicht. Sie ist selbstbewußt und unabhängig, kühn und konsequent. Sie trägt weit geschnitte Kleider, männliche Anzüge und flache Schuhe. Sie hat eine eher strenge Sinnlichkeit. Und sie ist immer sie selbst.
Sie hat eine außergewöhnliche Präsenz. Selbst auf den Photographien, auf denen sie direkt in die Kamera blickt, vermittelt sie eine Distanziertheit. Nicht unbedingt eine Kälte, doch eine Forderung nach Abstand. Dieses öffentliche Bild ist für die damalige Zeit vollkommen neu. Die Art des Selbstseins aber ist bis heute eine moderne Idee.
In den 30er Jahren verbringt O’Keeffe einige Sommer in New Mexico, fasziniert von der Weite, dem strahlenden Licht und der kargen Schönheit der Wüstenlandschaft. 1934 wohnt sie erstmals in jenem einfachen Lehmziegelhaus auf der Ghost Ranch, von dem sie später gesteht: »Als ich es sah, wusste ich sofort, dass ich es haben muss«.
Als ihr Eheman Alfred Stieglitz 1946 stirbt, geht sie endgültig und für immer nach New Mexiko.
»Für mich ist es der beste Ort der Welt«, hat O’Keeffe über die Ghost Ranch gesagt. »Sie war immer abgeschieden und einsam. Als ich das erste Mal dorthin ging, war es nur ein Haus mit einem Zimmer – in dem ein Geist lebte«.
Die braunrosa Mauern des Hauses scheinen wie aus der Erde gewachsen, die Panoramafenster rahmen den Blick auf die majestätische Klippen und Tafelberge der Umgebung.
1942 schreibt O’Keeffe an den Maler Arthur Dove: »Ich wünschte, Sie könnten sehen, was ich aus dem Fenster sehe – die erdrosa und gelben Klippen im Norden – den blassen Vollmond, der am frühen Morgen in einem lavendelfarbenen Himmel untergeht … rosafarbene und violette Hügel davor und ein Gefühl von Weite… «.
Fast 40 Jahre lang komponiert Georgia O’Keeffe auf der Ghost Ranch ein Leben in nahezu klösterlicher Einfachheit und Abgeschiedenheit. Im Einklang mit der Natur und mit sich selbst.
Die Ghost Ranch ist für O’Keeffe »eine Art Freiheit«, trotz all der Härten, die ein Leben ohne Telefon und mit Strom aus einem Generator mit sich bringen.
Ihr Tagesablauf ist von schlichten Ritualen geprägt, von Aufmerksamkeit und innerer Klarheit. Sie steht früh auf, macht vor dem Frühstück einen langen Spaziergang mit ihren Hunden. Dann malt sie draußen in der Wüste, der alte Ford dient als Atelier. Die Abende verbringt sie oft auf dem Dach ihres Hauses, gern schläft sie unter den Sternen.
Auch das Interior der Ghost Ranch ist ganz puristisch. Weißgekalkte Räume, Holzböden, ein Lehmziegelkamin. Ein bescheidener Holztisch, ein rotbrauner Le Corbusier Loungesessel, eine Stehlampe im Art-Déco-Stil. Weiße Baumwollvorhänge beschatten die Fenster.
Natürlich gibt es eine Staffelei und einen Metallwagen, auf dem die Blechdosen mit Pinseln, Tuben und Pigmenten stehen. O’Keeffe schätzt die reduzierten Formen asiatischer Kunst und liebt die rohe, elementare Schönheit der Natur. Überall Steine, Muscheln, knorrige Äste und bleiche Tierschädel. Eine perfekt kuratierte Harmonie mit Liebe zum Detail.
Georgia O’Keeffe stirbt 1986 im Alter von 98 Jahren. Da ist sie längst eine Legende. Und eine Stil-Ikone. Das Brooklyn Museum zeigt eine Ausstellung ihrer Kleider, Modemagazine leihen sich ihren Look, Designer wie Calvin Klein nutzen ihren androgynen Stil für Werbeanzeigen.
Annie Leibovitz photographiert die Ghost Ranch für ihre Serie »Pilgrimage«. »Irgendwas hat mich an der Art, wie sie lebte, einfach umgehauen. Ihre Genügsamkeit ist eine Erinnerung daran, dass wir nicht viel brauchen… «.
Ikonisch ist auch die Kupferbrosche in Form einer Spirale, die der Bildhauer Alexander Calder in den 30er Jahren für sie entwirft. Später lässt sie diese Brosche aus Silber anfertigen, weil Silber nun mal besser zu grauem Haar passt. Diese trägt sie bis zum Ende ihres Lebens. Immer. Und immer an derselben Stelle.
Meine Großmutter übrigens, die nie ein Bild von O’Keeffe gesehen hat, trug eine ganz ähnliche Brosche zu ihren dunklen Kleidern. Immer. Und immer an derselben Stelle.
Es sind diese beiden Frauen, die meinen Stil besonders beeinflusst haben – meine Großmutter und Georgia O’Keeffe.
Beitragsbild © W Magazine 2017