Wir sind im Sommer immer ans Meer gegangen. Ich erinnere mich an weite Himmel und an den scharfen Strandhafer, der die Haut zerschneidet, an windzerzaustes Haar und endlose Nachmittage, in denen alle Dinge verblassen und die Zeit stillsteht.
Ich erinnere mich an ein Gefühl von Freiheit und schmerzloser Stärke, an weiß gebleichte Möwenschädel im veilchenfarbenen Sand, an eine niedrige Kirchturmspitze über einem gebeugten Eichenwald, an knorrige Bäume, schief gegen die blaue See gelehnt.
Sommertage an der See sind lange der aristokratischen Elite vorbehalten. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts beginnt das wohlhabende Bürgertum, den Lebensstil des Adels zu imitieren. Man begibt sich nach Dieppe, das bis 1830 auch vom Hof besucht wird, oder nach Deauville. Man geht nach Brighton, Biarritz oder Heiligendamm. Die mondänen Badeorte am Meer ziehen nicht nur die großstädtischen Damen an, sondern auch die Künstler.
Max Liebermann, Strandbild Noordwijk, 1911 © PrivatbesitzMax Liebermann, Reiter am Strand, um 1911 © Staatliche Museen zu Berlin, Kupferstichkabinett
Max Liebermann verlegt sein Atelier im August 1900 an den Strand des damaligen Modebades Scheveningen an der niederländischen Küste und portraitiert betuchte Sommergäste und vornehme Reiter, die entlang der Brandung galoppieren.
Der Maler Ernst Ludwig Kirchner verbringt seine Sommeraufenthalte zwischen 1908 und 1914 auf der Insel Fehmarn, die er zu seinem persönlichen Paradies erklärt. Und Max Beckmann, der mehr als hundert Meeresbilder malt, schreibt 1915 an seine Frau Minna: »Und dann das Meer, meine alte Freundin, zu lange schon war ich nicht bei dir. Du wirbelnde Unendlichkeit mit deinem spitzenbesäten Kleide. Ach, wie schwoll mein Herz. Und diese Einsamkeit.«
Max Beckmann, Strand mit Booten an der Riviera, 1938 © PrivatbesitzMax Beckmann, Quappi, Schlafende am Strand 1927 © Privatbesitz
Das Meer ist Weite und Unendlichkeit. Der Psychologe Carl Gustav Jung, der im September 1909 von New York nach Europa reist, notiert in seinem Tagebuch: »Hinaus auf die traurige Wüste des Meeres. Es ist wie immer von kosmischer Großartigkeit und Einfachheit und zwingt zum Schweigen, denn was hat der Mensch hier zu sagen? Man sieht schweigend, auf alle Eigenmacht verzichtend, hinaus und eine leise Stimme spricht etwas von Unendlichkeit«.
Seit der Romantik ist das Meer ein Ort der Sehnsucht und eine Metapher für die Einsamkeit des modernen Menschen. Der Maler Caspar David Friedrich setzt 1810 eine winzige Gestalt vor die düstere Unendlichkeit des Meeres und malt die Verlorenheit des Daseins in einem unerklärlichen Kosmos, malt die Schwere der Wasserwüste, die Uferlosigkeit des Ozeans und die Gleichgültigkeit der Natur gegenüber dem Menschen.
Und der norwegische Maler Edvard Munch notiert einige Jahrzehnte später am Ufer des Meeres: »Unfassbar wie das Dasein, unvorstellbar wie der Tod, ewig wie die Sehnsucht.«
Caspar David Friedrich, Der Mönch am Meer, 1810 © Alte Nationalgalerie, BerlinBodega Bay, Kalifornien © acEdvard Munch, Melancholie, 1891 © Norwegische Nationalgalerie, Oslo
Das Meer kann nicht nur sommerlich blau und freundlich sein, sondern auch kalt und schrecklich unter einem finsteren Himmel. Es kann bedrohlich sein, unheimlich und unberechenbar. Das Meer ist von einer ambivalenten Gewalt – es kann beschwichtigen und ängstigen, beruhigen und zerstören. Man kann darin baden oder untergehen, man kann sich erfrischen oder ertrinken.
Manchmal gerät man in einen Sog oder einen Strudel, der einen fortreißt und gegen den man nichts ausrichten kann. Das Meer ist ist der Ursprung aller katastrophalen Fluten und aller Schiffbrüche. Verzweifelt durchkreuzt Odysseus die Gewässer auf der Suche nach Ithakas Küste, irrt durch die Schrecken des feindlichen Meeres und durch das Geheul der Sirenen und Ungeheuer.
Max Beckmann, Triptychon Abfahrt, 1932/33 © Museum of Modern Art, New YorkBodega Bay, Kalifornien © ac
Der Strand aber, auf den das Meer seine Opfer manchmal spült, ist seit antiker Zeit die Bühne aller Tragödien. Auf diesem schmalen Streifen scheitert der Held an all den ungelösten Fragen seines Daseins und leidet an all seinen Entscheidungen, die immer die falschen sind, ganz egal, wie er sich entscheidet.
In der modernen Psychologie gilt das Meer in seiner dunklen und unerforschten Tiefe auch als ein Sinnbild für die geheimnisvollen Tiefen des menschlichen Unbewussten. Die Finsternis auf dem Meeresgrund wird gelegentlich gleichgesetzt mit dem dunklen und unbekannten Grund des Bewusstseins – mit all den schattenhaften Träumen, den verborgenen seelischen Abgründen und den verloren geglaubten Erinnerungen.
Misty Cliffs, Scarborough, Südafrika © acErnst Ludwig Kirchner, Badende zwischen Steinen, 1912 © Städel Museum, Frankfurt am Main
Das Meer ist das Älteste und Früheste – das Meer ist immer schon da und ist immer dasselbe Meer. Es wirft seine stierstarken Wogen auf den Strand, lange bevor das erste Menschengeschlecht seine Augen öffnet, und es wird noch donnernde Wellen schlagen, wenn das letzte Menschenreich längst im Staub versunken ist.
Dungeness Spit, Clallam County, Washington State © ac
Das Meer kennt Gezeiten, aber keine Zeit. Es ist dasselbe Meer, an dem der alttestamentarische Joseph entlang der Küste hinabzieht in das Land, in das er als Sklave verkauft wird. Es ist dasselbe Meer, auf dem die Phönizier ihre Zedernstämme und ihre mit Purpurschnecken gefärbten Stoffe auf offenen Booten bis nach Kreta und nach Karthago bringen. Es ist dasselbe Meer, auf dem die kriegerischen Wikinger von der skandinavischen Küste bis nach Grönland, Spanien und an die Küste von Labrador gelangen.
Joseph Mallord William Turner, Peace – Burial at Sea, 1842 © Tate Britain, London
Es ist dasselbe Meer, in das der Mensch seine zerstörten Kriegsschiffe versenkt und all die Toten. Es ist dasselbe Meer, in dem Millionen Tonnen Plastik treiben. Es ist dasselbe Meer, in dem noch immer Düngemittel, Abwasser, Schwermetalle und Dünnsäure landen, auch die Abfälle von Frachtern, Öltankern und Kreuzfahrschiffen. Das allerdings hat mit romantischen Metaphern nichts mehr zu tun.
Mehr zum Monat August, zum Meer und anderen Träumen, steht in meinem Buch über »Die Wurzeln unserer Kultur. Natur, Kunst, Mythologie, Feste und Bräuche im Jahreslauf«. Erschienen 2017 im Europa Verlag.
Beitragsbild © Max Beckmann, Meerlandschaft mit Agaven und altem Schloss, 1939